Straßburg: Stolpersteine des Gedenkens

Haben Sie schon die kleinen goldenen Pflastersteine auf einigen Straßburger Bürgersteigen entdeckt, die leicht aus dem Boden ragen? Es handelt sich um Stolpersteine, die von einem deutschen Künstler zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus konzipiert wurden. In Straßburg gibt es bereits zwanzig davon, hier und da über die Stadt verteilt. 


„Hier lebte Nathan Schenkel, geboren 1896, Flüchtling in La Bachellerie, erschossen am 1.4.1944" „Hier lebte Esther Schenkel, geboren 1898 in Zilberman, interniert in Drancy, 1944 nach Auschwitz deportiert, ermordet am 16.4.1944" Die gesamte Familie Schenkel ist auf sieben kleinen Quadraten unter den Füßen all derer aufgereiht, die auf dem Bürgersteig der Rue de Barr in Straßburg laufen. Esther und Nathan Schenkel, Juden polnischer Herkunft und ihre zwischen 1930 und 1937 geborenen fünf Kinder, Cécile, Isaac, Jacques, Maurice und Alfred wurden in Périgueux festgenommen. Der Familienvater wurde auf der Stelle erschossen, die Mutter und ihre Kinder deportiert und im April 1944 im Lager Auschwitz ermordet. 
 

Les Stolpersteine à Strasbourg
Toute la famille Schenkel devant le 6 rue de Barr, à Strasbourg, où elle vivait avant la Deuxième Guerre mondiale. © Lucie Michel

Ziel: 850

Obwohl die Pflastersteinreihe neugierigen Passanten auffällt, wissen nur wenige, worum es sich dabei handelt, wie zum Beispiel einer der Bewohner des Hauses, in dem die Familie Schenkel vor dem Krieg wohnte. Diese Stolpersteine gehören zu den zwanzig Pflastersteinen, die am 1. Mai 2019 in Straßburg verlegt wurden. 
Das vom deutschen Künstler Gunter Demnig erdachte Konzept des Stolpersteins besteht darin, an das Schicksal der Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern, indem der Blick der Passanten auf diese mit Messing beschichteten und von Hand gravierten Betonpflastersteine gelenkt wird. 
In Straßburg wurde das Projekt vom Verein Stolpersteine 67 nach Verhandlungen mit dem Jüdischen Konsistorium des Bas-Rhin, der Stadt und der Eurometropole durchgeführt. Ziel ist es, dass es in einigen Jahren in Straßburg Stolpersteine für jeden der 850 vom Nazi-Regime deportierten und ermordeten Juden der Stadt gibt, betonte Fabienne Regard, Vorsitzende des Vereins Stolpersteine 67, bei der Verlegung. 

Kurzfassung eines Schicksals

Im Elsass wurden die ersten Stolpersteine am 30. April 2019 in Mutterholtz und in Herrlisheim-près-Colmar (68) auf Initiative von Christophe Woerhlé verlegt. Der elsässische Historiker forscht nach Spuren der Opfer. Jeder Pflasterstein fasst das dramatische Ende eines Opfers des Nationalsozialismus auf 9,6 cm² zusammen: „tot" oder „ermordet", „unbekanntes Schicksal" für unklare Fälle, „Flucht in den Tod" für diejenigen, die Selbstmord begingen. In jedem Fall ist es Aufgabe der Antragsteller, die Erforschung des Schicksals der Opfer zu gewährleisten. 

Christophe Woerhlé benötigt sechs bis acht Monate für die Suche nach Sterbeurkunden aus dem Archiv der Opfer zeitgenössischer Konflikte in Caen und in den Archiven von Yad Vashem (Internationales Institut zum Gedenken an den Holocaust) in Jerusalem. Der Historiker sucht nach Spuren der Deportation, überprüft den Vermerk, die Nummer des Konvois und die Eintragung auf den Listen der Deportationslager.

Les Stolpersteine à Strasbourg
© Lucie Michel

„Im Lager Buchenwald wurden die Aufzeichnungen besser geführt"

„In Auschwitz wurde das Datum des Todes nie angegeben. Es wird innerhalb von fünf Tagen nach der Ankunft im Lager festgelegt. Die Akten von Buchenwald waren besser geführt und enthielten die Daten der Ankunft". Nachdem die Sterbeurkunde ausgestellt ist, beantragt Christophe Woerhlé beim Orden der Kriegsveteranen und Kriegsopfer den Vermerk „Für Frankreich gestorben". 
Doch anders als in Deutschland und anderen Ländern, wo die Pflastersteine vor dem letzten freien Wohnsitz der Opfer verlegt wurden, hat man sie im Elsass dort verlegt, wo die Opfer gelebt hatten oder vor ihrem Geburtshaus. „Denn es wurden keine Juden direkt aus dem Elsass deportiert: sie wurden 1940 nach Frankreich ausgewiesen, von wo aus sie später deportiert wurden. "

Mehr als 75.000 Pflastersteine weltweit

Geschichtslehrer in Deutschland. Christophe Woerhlé hat in Bamberg zwei Stolpersteine zum Gedenken an zwei französische Kriegsgefangene verlegen lassen, 2013 weitere im Südwesten Frankreichs für Opfer der Zwangsarbeit. Weitere Steine wurden für politische Gefangene in der Vendée, Charente Maritime und Gironde verlegt. „Zuvor war in Frankreich ein erster Antrag auf Stolpersteine für jüdische Opfer mit der Begründung abgelehnt worden, Frankreich sei ein laizistisches Land", kritisiert der Historiker. 
Bis heute wurden mehr als 75.000 Pflastersteine in 26 europäischen Ländern und in Argentinien verlegt.

„Sie ersetzen ein Grab"

Les Stolpersteine à Strasbourg
© Lucie Michel

Über diese Pflastersteine will der Künstler Gunter Demnig „nicht die Füße, sondern den Geist und die Herzen der Menschen stolpern lassen". Ebenso inspiriert wie unermüdlich verlegt er seit 1997, als er in Berlin spontan damit anfing, Gedenksteine zum Gedenken an die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus im Rahmen einer Kunstausstellung zur Erinnerung an Auschwitz. Seitdem ist er nicht müde geworden, die Städte zu durchstreifen, im Gegenteil. 
„Das Wichtigste ist die Reaktion der Menschen auf diese Pflastersteine und die Emotion der Familien, für die sie manchmal ein Grab ersetzen. Dies ist der eigentliche künstlerische Prozess, mehr noch als die Pflastersteine selbst. Sehr wichtig ist auch das Interesse der jungen Menschen: Es ist etwas anderes, in einem Buch zu lesen, dass Millionen von Juden vernichtet wurden, als auf dem Kopfsteinpflaster zu erfahren, was an einem bestimmten Ort passiert ist", sagt Gunter Demnig.

„Man muss sich verneigen"

Der Künstler zitiert den Talmud, um seinen Ansatz zu rechtfertigen: „Ein Mensch ist erst dann vergessen, wenn sein Name vergessen ist". Daher rührt sein Wunsch, „einen Pflasterstein, einen Namen oder ein
menschliches Wesen" mit der Erinnerung zu verknüpfen. Und Messing zu wählen, um den Stein zu bedecken: Je öfter man über das Kopfsteinpflaster läuft, desto mehr poliert sich das Messing und desto besser ist die Botschaft lesbar, sagt der Künstler. Dieser hat die Geste des Gedenkens auf alle Opfer des Nationalsozialismus ausgedehnt: nicht nur Juden, sondern auch Behinderte, Deserteure, politische Aktivisten, Opfer aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Hautfarbe, Zwangsarbeiter... 
„Wenn man die Namen der Opfer lesen und wissen möchte, was mit ihnen geschehen ist, muss man sich auch ein wenig vor ihnen verneigen... Das ist für mich einer der wichtigsten Aspekte. "

Lucie Michel